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Interview zur Geschichte der LGBTIQ* Bewegung in Polen

Die LGBTIQ*- Bewegung in Polen lief anders als in der USA und der BRD, da durch den sozialistischen Einfluss Presse- und Versammlungsfreiheit stark eingeschränkt wurden. Magda Wlostowska arbeitet an der Universität in Leipzig und beschäftigt sich in ihrer Promotion mit der Entwicklung von schwul-lesbischen Sphären seit den 1980er Jahren in Polen. Sie hat uns Frage und Antwort gestanden zu dieser Entwicklung.

ENOUGH is ENOUGH!: Danke, dass wir dich zu der Geschichte der LGBTIQ*-Bewegung in Polen interviewen dürfen. Vielleicht kannst du am Anfang erklären, wer du bist, was du machst und mit welchem Blick du auf die Geschichte der LGBTIQ*-Bewegung in Polen schaust?
Magda Wlostowska: Ich bin Politikwissenschaftlerin, Doktorandin an der Universität Leipzig und arbeite an einem Promotionsprojekt zur Entstehung und Entwicklung von schwul-lesbischen Sphären in Polen seit den 1980er Jahren. Da ich nicht in Strukturen in Polen involviert bin, ist meine Perspektive eher ein akademischer Blick von außen.
EiE!: In den 1930er Jahren wurde in Polen gleichgeschlechtlicher Sex entkriminalisiert – weit früher als in vielen anderen Ländern Europas. Wie kam es dazu?
Magda W.: Die Zweite Polnische Republik existierte erst seit 1918, zuvor war das Land 123 Jahre lang in einen preußischen, österreichischen und russischen Teil geteilt. Das im Jahr 1932 neuerarbeitete polnische Strafgesetzbuch hob die Strafbarkeit von einvernehmlichen „gleichgeschlechtlichen sexuellen Handlungen“ zwischen Erwachsenen auf. (Das Gesetz bezog sich übrigens nur auf sexuelle Handlungen zwischen Männern, lesbische Liebe existierte qua Gesetz gar nicht!) Über die juristischen Debatten der Kommission dazu kann ich wenig sagen. Natürlich lässt sich darüber spekulieren, ob sie umgehen wollte, durch ein Verbot indirekt die Aufmerksamkeit auf nicht-heterosexuelle Lebensweisen zu richten. Ich fürchte jedenfalls, die Aufhebung hatte wenig mit einer progressiven Politik im Sinne einer Anerkennung von gleichgeschlechtlicher Liebe zutun...
EiE!: Inwiefern konnte eine politische Bewegung von LGBTIQ* in der Volksrepublik Polen stattfinden? Bis 1989 waren dort, wie in der DDR, Presse- und Versammlungsfreiheit nur eingeschränkt vorhanden, und somit verlief die Bewegung wahrscheinlich anders als in den USA oder der BRD?
Magda W.: Ja, das stimmt. Eine feministische Bewegung oder eine Gay & Lesbian Liberation Bewegung konnte in der Form, wie wir sie z.B. aus der Bundesrepublik der 1970er Jahre kennen, aus naheliegenden Gründen nicht entstehen. Viele politische Kräfte waren in Polen seit den 1970er Jahren in der politischen Opposition, vor allem der Solidarność, aktiv und gebunden. Anfänge einer Vernetzung von Schwulen und Lesben mit dem Ziel in der Öffentlichkeit repräsentiert zu sein, auf rechtliche Gleichstellung hinzuwirken etc. sieht man erst Mitte der 1980er Jahre. Das wurde – gewissermaßen als Nebeneffekt – durch das 1981 aus Wien gestartete Projekt Eastern Europe Information Pool (EEIP) initiiert. Die Wiener Aktivist*innen wollten eigentlich nur Informationen über die Situation und Lebensweisen von Schwulen und Lesben im östlichen Europa sammeln und westlichen NGOs zur Verfügung stellen. Bald aber diente das EEIP als Plattform für Austausch zwischen Schwulen und Lesben aus unterschiedlichen Ländern des östlichen Europas.
EiE!: Im Laufe deiner wissenschaftlichen Arbeit hast du dich schon mit den ersten schwul-lesbischen Newslettern in Polen auseinandergesetzt. Ich habe auch von schwul-lesbischen Magazinen gelesen, die es in Polen gab. Kannst du ein wenig über diese Art von Vernetzung erzählen und welche Auswirkungen das auf die LGBTIQ* (vor allem lesbische Frauen und schwule Männer) hatte, aber auch inwiefern andere aus der Community vielleicht davon profitiert haben?
Magda W.: Von Mitte bis Ende der 1980er Jahre wurde in Polen auf nicht-offiziellen Wegen ein in Wien von Aktivist*innen des schon erwähnten Eastern Europe Information Pool produzierter Newsletter verbreitet, aber auch in Polen selbst entstand ungefähr zur gleichen Zeit in Gdańsk ein kleines, schwules Fanzine namens „Filo“. Nach 1990 wurde aus „Filo“ ein richtiges Monatsmagazin, das am Kiosk gekauft werden konnte. Und auch in Poznań entstand 1990 die Monatszeitschrift „Inaczej“ (zu Dt. „Anders“). Wenn man sich die Inhalte dieser Zeitschriften in den frühen 1990er Jahren anschaut, so geht es zunächst um eine Selbstverortung in Kultur und Geschichte. Es werden Klassiker der schwul-lesbischen Literatur vorgestellt oder mutmaßlich schwule und lesbische historische Persönlichkeiten vorgestellt. Wobei auch hier eine große Betonung auf „schwul“ zu setzen ist, Frauen und Lesben sind in den Magazinen nur marginal präsent. Eine gewisse Vernetzung auf persönlicher Ebene ist damals nur durch die zahlreichen Kontaktanzeigen und in neu entstehenden Kneipen und Bars – wovon die Werbung zeugt – möglich. Erst Mitte der 1990er entstehen Gruppen, die in den Zeitschriften zum Mitmachen aufrufen, oder es erscheinen Texte, die gesellschaftspolitischen Bezug haben. Ende der 1990er bzw. Anfang der 2000er Jahre müssen beide Zeitschriften aus finanziellen Gründen eingestellt werden. In der Zeit, in der sie erschienen sind, haben sie mit Sicherheit aber einen großen Beitrag zur Entstehung einer schwul-lesbischen Sphäre in Polen geleistet.
EiE!: Da du ja gerade davon gesprochen hast, wie die LGBTIQ*-Community in der Vergangenheit von den Newslettern und Magazinen profitiert haben, frage mich, ob du vielleicht auch was zu der Situation heute sagen kannst? Also in welchen Formen diese Magazine heute von Repression betroffen sind?
Magda W.: Ähnlich wie auch in Deutschland, gibt es ja auch in Polen seit den 1990er Jahren eine Verlagerung von Community und Kommunikation ins Internet, später insbesondere zu diversen Social Media Plattformen. Das war auch einer der Gründe für die Einstellung der Zeitschriften „Filo“ und „Inaczej“. Erst seit 2005 gibt es in Polen wieder eine regelmäßig erscheinende Print-Zeitschrift: „Replika“. Damals wurde sie als Projekt von der NGO Kampania Przeciw Homofobii (Dt. „Kampagne gegen Homophobie“) gegründet, ist aber seit einigen Jahren unabhängig. Sie wurde kostenlos ausgelegt und finanzierte sich durch Spenden, Soli-Abos und Werbung. Die Reichweite war aber vor allem auf größere Städte und einschlägige Locations beschränkt. Seit 2021 ist sie auch in Buchhandlungen der Kette „Empik“ zu kaufen. Die selbe Kette, die mit Boykottaufrufen durch Konservative konfrontiert war, als sie vor einigen Jahren ein amerikanisches Kinderbuch über zwei schwule Pinguine und ihr adoptiertes Küken vertrieben hat. Direkten staatlichen Repressionen ist die „Replika“ bislang aber nicht ausgesetzt.
EiE!: Es zeigt sich, dass sich der Großteil der Informationen, Newsletter, Angebote, etc. an Männer richtete? Wie sah die Situation für Frauen aus, und bekamen diese auch die Möglichkeit sich zu vernetzen und an der Bewegung teilzuhaben?
Magda W.: Ja, die meisten Zeitschriften waren vor allem an schwule Männer adressiert. Was nicht heißt, dass es keinen lesbischen Aktivismus gab. Im Dokumentarfilm „Yes we are“ von Magda Wystub kommen auch einige Zeitzeuginnen aus den 1980 und 1990 Jahren zu Wort: z.B. Roma Cieśla oder Yga Kostrzewa. Ich habe aber den Eindruck, dass anders als in den frühen Zeitschriften, Frauen und Lesben bei der Arbeit von NGOs wie z.B. Lambda Warszawa, der ältesten polnischen LGBTQIA*-Organisation, von Anfang an viel präsenter sind.
EiE!: Der Großteil der Entwicklung lässt sich als Bewegung von und für homosexuelle Menschen beschreiben. Weiß man etwas über die Geschichte von anderen Angehörigen der LGBTIQ*-Community, so wie trans* Menschen oder auch inter* Menschen?
Magda W.: In den Quellen aus den 1980er Jahren habe ich vor allem viel zu schwulen Lebensweisen gefunden. In den Zeitschriften der 1990er Jahre sieht man, das die Redakteur*innen ihre Leser*innenschaft drauf aufmerksam machen, dass es neben schwulen und lesbischen auch andere Geschlechtsidentitäten gibt, z.b. mit Verweisen auf literarische Figuren oder auf historische Persönlichkeiten wie den polnischen Schriftsteller Piotr Włast. Eine größere Community oder Vernetzung ist mir aus der Zeit aber nicht bekannt. Auch die schon erwähnte Zeitschrift „Replika“ bemüht sich, ihrer Selbstbezeichnung als Zeitschrift für LGBTQIA* gerecht zu werden und interviewt regelmäßig Personen des öffentlichen Lebens, die auch als Inter- oder Trans* Aktivist*innen auftreten, so z.B. die ehemalige Sejm-Abgeordnete Anna Grodzka oder die ehemalige Solidarność-Aktivistin Ewa Hołuszko. Seit 2008 gibt es die NGO Trans*Fuzja (dt. „Trans*Fusion“) die neben Beratungsangeboten auch viel Networking und Campaigning betreibt – gerade auch bei den neuerlichen feministischen Protesten mit Hinweisen, dass durchaus auch nicht-binäre Personen und Männer schwanger werden können und ein Recht auf körperliche Selbstbestimmung haben.
EiE!: Welches sind weitere wichtige Ereignisse in der Geschichte der LGBTIQ*- Bewegung in Polen nach 1989 bis zum Einführen der ersten “LGBT-free Zone“ im März 2019?
Magda W.: Das ist natürlich ein sehr langer Zeitraum, schwer, das in wenigen Worten zusammenzufassen. Als Wissenschaftlerin würde ich diese 30 Jahre in Phasen einteilen. In der ersten Phase, in den 1990er Jahren, ging es eher um Selbstverständigung und Selbstverortung – da spielen Zeitschriften eine große Rolle. Seit etwa Ende der 1990er Jahre trat eine neue Phase ein, in der zunehmend Gruppen gegründet wurden, die entweder Selbsthilfeangebote machen und Räume schaffen – wie z.B. Lambda Warszawa – oder aber sich auf Campaiging in der breiten Öffentlichkeit fokussieren - wie z.B. Kampania Przeciw Homofobii. Rechtliche Gleichstellung und die Forderung, ohne Angst verschieden sein zu können, sind seit Anfang an auch Themen der Pride-Demos, die z.B. in Warschau seit Ende der 1990er Jahren als Parada Rowności (Dt.„Gleichheitsparade“) stattfinden. Auch der Beitritt Polens zu Europäischen Union 2004 war in diesem Punkt wichtig, denn es verbanden sich damit viele Hoffnungen auf eine sanfte, aber stetige Anpassung polnischer Gesetze an Gesetze, die in einigen west- und nordeuropäischen Ländern gelten, etwa das Recht auf Ehe für alle. Seit einigen Jahren lässt sich ein Backlash feststellen, das würde ich auch als nunmehr eigene Phase bezeichnen. Dabei sind die Ereignisse seit Sommer 2019 ein vorläufiger Tiefpunkt. Insbesondere in der Bildungs- und Gesundheitspolitik gibt es da große Rückschritte. Auch die Verschärfung des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch bzw. seine de facto Abschaffung ist hier zu nennen.
EiE!: Wie verlief die Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen und Aktivist*innen und welche Relevanz ist dem Engagement nicht-polnischer Aktivist*innen zuzuschreiben? Wurde das vielleicht auch als Bevormundung empfunden von manchen Anhängern der LGBTIQ*-Community in Polen? Inwiefern erachtest du diese internationale Zusammenarbeit als sinnvoll, in welchen Punkten würdest du Alternativen sehen und was können wir daraus für die Gegenwart lernen?
Magda W.: Simple Importe von Strukturen oder Ideen funktionieren nicht. Das hat auch das Beispiel des EEIP in Polen gezeigt. Es war in den 1980er Jahren eine wichtige Plattform zum Austausch, aber sobald es ab 1990 möglich war, gründeten sich autonome Zeitschriften und Gruppen in Polen. Es ist effektiver, wenn Aktivist*innen vor Ort arbeiten, die z.B. die rechtlichen oder sozialen Bedingungen kennen. Dennoch kann auch für Aktivist*innen aus Polen ein Blick in die Geschichte z.B. westeuropäischer LGBTQIA*-Bewegungen wichtig sein, weil man dann bestimmte Strategien erkennt und diese als Inspiration für den eigenen Kampf nehmen kann – das ist auch der Punkt an dem ich die enorme Bedeutung von Bewegungsarchiven betonen will. Für politisch Interessierte und Aktivist*innen, die solidarisch mit den Kämpfen in Polen sein wollen, ist es wichtig, polnischen Aktivist*innen zuzuhören und zu erfahren, welche Art der Solidarität und Unterstützung sie brauchen und wollen.

Enough is Enough Team